Mittwoch, 16. Mai 2007

Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck.

»Hingehen sollen die heroisch verstummten einsamen Dichter und lernen, wie man einen Schuh macht, einen Fisch fängt und ein Dach dichtet, denn ihr ganzes Getu ist Geschwätz, qualvoll, blutig, verzweifelt, ist Geschwätz vor den Mainächten, vor dem Kuckucksschrei, vor den wahren Vokabeln der Welt. Denn wer unter uns, wer dann, ach, wer weiß einen Reim auf das Röcheln einer zerschossenen Lunge, einen Reim auf einen Hinrichtungsschrei, wer kennt das Versmaß für das Gebell der Maschinengewehre, eine Vokabel für den frisch verstummten Schrei eines toten Pferdeauges, in dem sich kein Himmel mehr spiegelt und nicht mal die brennenden Dörfer, welche Druckerei hat ein Zeichen für das Rostrot der Güterwagen, dieses Weltbrandrot, dieses ausgetrocknete blutigverkrustete Rot auf weißer menschlicher Haut? Geht nach Hause, Dichter, geht in die Wälder, fangt Fische, schlagt Holz und tut eure heroische Tat: Verschweigt!
Verschweigt den Kuckucksschrei eures einsamen Herzens, denn es gibt keinen Reim und kein Versmaß dafür, und kein Drama, keine Ode und kein psychologischer Roman hält den Kuckucksschrei aus, und kein Lexikon und keine Druckerei hat Vokabel oder Zeichen für deine wortlose Weltwut, für deine Schmerzlust, für dein Liebesleid.
Denn wir sind wohl eingeschlafen unter dem Knistern geborstener Häuser (ach, Dichter, für das Seufzen sterbender Häuser fehlt dir jede Vokabel!), eingeschlafen sind wir unter dem Gebrüll der Granaten (welche Druckerei hat ein Zeichen für dieses metallische Geschrei?), und wir schliefen ein bei dem Gestöhn der Sträflinge und der vergewaltigten Mädchen (wer weiß einen Reim darauf, wer weiß einen Rhythmus?) - aber hochgejagt wurden wir in den Mainächten von der stummen Qual unserer Fremdlingsherzen hier auf der Frühlingswelt, denn nur der Kuckuck weiß eine Vokabel für all seine mutterlose Not. Und uns bleibt allein die heroische Tat, die Abenteuertat: Unser einsames Schweigen. Denn für das grandiose Gebrüll dieser Welt und für ihre höllische Stille fehlen uns die armseligsten Vokabeln. Alles, was wir tun können, ist: Addieren, die Summe versammeln, aufzählen, notieren.
Aber diesen tollkühnen sinnlosen Mut zu einem Buch müssen wir haben! Wir wollen unsere Not notieren, mit zitternden Händen vielleicht, wir wollen sie in Stein, Tinte oder Noten vor uns hinstellen, in unerhörten Farben, in einmaliger Perspektive, addiert, zusammengezählt und angehäuft, und das gibt dann ein Buch von zweihundert Seiten. Aber es wird nicht mehr drin stehn als ein ein paar Glossen, Anmerkungen, Notizen, spärlich erläutert, niemals erklärt, denn die zweihundert bedruckten Seiten sind nur ein Kommentar zu den zwanzigtausend unsichtbaren Seiten, zu den Sisyphusseiten, aus denen unser Leben besteht, für die wir Vokabel, Grammatik und Zeichen nicht kennen. Aber auf diesen zwanzigtausend unsichtbaren Seiten unseres Buches steht die groteske Ode, das lächerliche Epos, der nüchternste verwunschenste aller Romane: Unsere verrückte kugelige Welt, unser zuckendes Herz, unser Leben! Das ist das Buch unserer wahnsinnigen dreisten bangen Einsamkeit auf nachttoten Straßen.«

Wolfgang Borchert, "Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck",
aus "Wolfgang Borchert - Das Gesamtwerk", 8. Auflage,
Rowohlt Verlag GmbH 2oo6.


Beko:
Wolfgang Borchert. Wer wurde während seiner Schulzeit nicht mit ihm und seiner Kurzgeschichte "Nachts schlafen die Ratten doch" konfrontiert? Zu Recht.
Einer der berühmtesten und besten Autoren der sogenannten "Trümmerlitaratur"; der Junge, der lediglich 26 Jahre alt wurde. Ein großartiger Schriftsteller, dessen vollständige Werk gerade mal ein Buch füllen. Trauer und Wut, Leid und Zerstörung, Krieg und Verlust - die zentralen Themen seiner Werke.
Wer Borchert nicht liest, kann nicht verstehen, wie sich Leid anfühlt.


Barfuss - 16. Mai, 18:52

Beko:
Wolfgang Borchert. Wer wurde während seiner Schulzeit nicht mit ihm und seiner Kurzgeschichte "Nachts schlafen die Ratten doch" konfrontiert?

Ähhm, ich! Ist das schlimm?

seaandsun (Gast) - 16. Mai, 21:57

ja sollte man doch mal gelesen haben
perpetuum mobile (Gast) - 16. Mai, 23:25

Ja, sollte man mal gelesen haben. Mit ebenjenem erwähnten Text bin ich zum ersten Mal mit Wolfgang Borchertin Kontakt gekommen.
Großartig, dieser Text, großartig!
Wirklich toller Schreibstil.

Die gesammelten Werke kommen auf "die Liste" ;)

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