Freitag, 6. April 2007

Why so sad, little girl?

Beginn: 2:45 Uhr

Die Stadt zieht an den zerkratzten Fensterscheiben vorbei. Er versucht immer wieder, Fragmente dessen, was er war und was diese Stadt ihm bedeutete, mit dem, was dort an ihm vorbeirast, zu verknüpfen. Er lächelt müde, als er zum wiederholten Male feststellen muss, dass es ihm einfach nicht gelingen will. Diese Stadt mag ihm jahrelang Obdach geboten haben, doch ein Zuhause war sie wohl nie. Es scheint ihm fast ein bisschen bitter, erst jetzt zu dieser Erkenntnis zu kommen; jetzt, wo es fast zu spät ist.
Er hebt seine linke Hand und zieht mit der rechten den Ärmel seine Hemdes ein wenig hoch: 10:13 Uhr, seine Kollegen sitzen jetzt sicher schon hinter ihren Schreibtischen. So wie jeden Tag, wie an jedem normalen Tag. Und genau das war es doch bisher, oder? Ein völlig normaler Tag.

Der Wecker klingelte - wie jeden Morgen unter der Woche - um 6:15, ein Ritual, das sich seit 32 Jahren nicht geändert hat (außer, er kam mal in den Genuss von Urlaub, was immerhin 3,5 Wochen im Jahr der Fall war). Müde tastete er nach dem nächtlichen Störenfried, schaltete ihn aus und lag dann noch fünf Minuten an die Decke (obwohl er sie im dunklen Zimmer nicht erkennen konnte, so war er sich doch sicher, dass sie sich genau über ihm befand - und die Erfahrung gab ihm Recht). Er drehte sich nach links, zu dem atmenden Etwas. Es konnte alles sein und doch wusste er mit trauriger Gewissheit, dass es sich bei dem Etwas um eine Frau handelte; 53 Jahre alt, gefärbte Haare, leicht hängende Brüste, schlechtes Gebiss und ein auf beeindruckende Weise einfacher Sinn für Humor.
"Ich kenne sie nicht," dachte er, während er dem von ihm abgewendeten Berg mit 97 Kg Lebendgewicht beim Atmen zusah, "doch ich habe sie sicher mal gekannt. Wann mag das gewesen sein? Wohl damals, als Helmut Schmidt noch..." Er verwarf diesen Gedanken, als ihm schlagartig bewusst wurde, dass er sicher weder an das Gesicht Helmut Schmidts noch an das der Frau neben ihm erinnern konnte. Langsam erhob er sich aus dem Bett und schlurfte ins Badezimmer. Vorm Spiegel stehend zählte er die Furchen und Täler, die ihm die Zeit ins Gesicht geschlagen hatte. Tiefe Ränder unter den Augen erzählten von der letzten Nacht, erzählten von den Gedanken und den Plänen, die ihm durch den Kopf schossen.
Der Kaffee war heiß und gut, zumindest dachte er das. Hatte er jemals einen anderen, schlechteren Kaffee getrunken? Wieder einmal konnte er sich nicht erinnern. Mit der Tasse in der Hand, schlenderte er - anders als die 32 Jahre zuvor - durch das Wohnzimmer und betrachtete all die Erinnerungen aus Holz und Glas, die sich in die Ecken und an die Wände drückten wie stumme Zeitzeugen, die ihm zu sagen schienen: Das hier bist Du. Das hier warst Du. Das hier wirst Du immer sein.
Er bleibt vor einem Bild stehen, sein Gesicht spiegelt sich im Glas. Hinter dieser Spiegelung sieht er vier Personen und einen Hund, die lächelnd in die Kamera blicken, auf einem immergrünen Rasen sitzend. Der Rasen war heute (22 Jahre später) nicht mehr grün, ein riesiges Einkaufszentrum, einer dieser hässlichen Betonblöcke, hat das grün in grau verwandelt. Doch auf diesem Bild, auf diesem Relikt längst vergangener und fast schon vergessener Tage, würde sie immer grün bleiben. War es nicht genau das, was er sich stets für sein Leben gewünscht und erhofft hatte? Dass es auf ewig grün bliebe? Es ist geblieben, wie es immer war (bis auf die Falten im Gesicht), und doch war es grau, dem Einkaufszentrum gleichend - mit dem einzigen Unterschied, dass sich für den Konsumtempel weitaus mehr Menschen interessierten. Auf dem Bild sitzt er auf einer Decke (rot-beige kariert, wie sie wohl auch nur vor über zehn Jahren modern war), im Arm eine Frau. Er blinzelte und schaute sie genauer an: Ja, es ist die Frau, die seit vielen Jahren neben ihm im Bett schläft und schnarcht, daran besteht kein Zweifel. Vor ihrer Hochzeit hieß sie nocht Margaret Hansen, danach Margaret Jacobs. "Es machte keinen Unterschied, es sind beides keine bedeutenden Namen." dachte er, und wieder huschte ein Lächeln über seine spröden Lippen. Zur ihren Füßen hocken zwei Jungs, seine Söhne. Er musste unweigerlich an sie und an die Stille, die sie hinterließen, als sie auszogen, denken.
Er riss sich von dem Bild los und schritt wieder durch das Zimmer, zählte in Gedanken die Schritte von einer Wand zur anderen, vom Fernseher zum Sessel und zurück. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er losmusste: 6:45 Uhr, so wie immer. Seit 32 Jahren. Er stellte die Tasse in das Spülbecken und griff nach seinen Schlüsseln und der Aktentasche, schloss die Tür auf, schritt hinaus in die gerade erwachende Stadt, schloss die Tür hinter sich und stecke die Schlüssel in die Tasche.
"Ein schöner Tag, wie immer um diese Jahreszeit." dachte er, während er versuchte, das Gartentor leise zu öffnen. Es gelang ihm nicht, quietschend und knarzend bewegten sich die angerosteten Scharniere. Er wollte es ölen, schon vor einiger Zeit. Das erste Mal wohl vor sieben Jahren. Der Schotter knirschte unter seinen Schritten, als er aus der kleinen Seitenstraße in die angrenzende Hauptstraße einbog und zur Straßenbahn ging, so wie immer. Seit 32 Jahren. Er wartete und schaute die wenigen Menschen, die um ihm herumstanden an, bis er schlussendlich - die Aktentasche unterm Arm anstatt am Griff haltend - in die Linie 7 einstieg.

Und so sitzt er nun, die Tasche zu seinen Beinen, in der Straßenbahn. Er stieg ein paarmal um, nur um einfach so durch die Stadt zu fahren. Einfach so.
Nein, dieses Mal würde ihn sein Weg nicht zum Büro führen, heute nicht. Noch immer huscht sein Blick über die auf der Außenseite dieses Eisen- und Stahlzuges vorbeiziehenden Gebäude und Häuser. Obwohl die Fenster zerkratzt und staubig sind, erscheint ihm die Stadt heute in einem ungewohnten Licht, viel heller als er sie je in Erinnerung hatte.

Plötzlich bleibt sein Blick bei dem Mädchen ihm gegenüber hängen; ja, es war wirklich ein Mädchen, keine Frau, so um die 15 Jahre (vielleicht war sie auch 16 oder 14 ... oder gar 13, wer vermag das bei der heutigen Jugend schon genau sagen zu können?) mit schwarzen Haaren und einer roten Haarspange. Auf ihrem Schoß hielt sie ihre Tasche (früher hätte man dazu wohl "Rucksack" gesagt), die mit allerlei Sätzen und Kürzeln versehen ist, die er nicht zu verstehen vermag: H.D.G.D.L., I.L.D. Jan und derlei mehr. Sie blickte nach unten und er fragte sich, ob sie wohl ihre Schuhe anschaute.
Er kann nicht sagen, wie lange er ihr gegenüber saß und sie still anstarrte, doch plötzlich hebt sie ihren Kopf.



Linernotes:
Eine Geschichte, die mir seit langer Zeit im Kopf rumspukte. Anlass dafür war ein junges Mädchen so um die 15 Jahre (vielleicht war sie auch 16 oder 14 ... oder gar 13, wer vermag das bei der heutigen Jugend schon genau sagen zu können?), welches mir in der Straßenbahn - es muss im Herbst letzten Jahres gewesen sein - genau gegenüber saß. Ich las gerade ein Buch und schaute kurz zu ihr auf und sah in ihre todtraurigen, tränennassen, geröteten Augen. Es war nur ein kurzer Augenblick, dem Flügelschlag einer Biene ähnlich, und wir beide schauten wieder verschämt weg: Sie zur Seite und ich in mein Buch.
Neben mir saß ein älterer Herr und beobachtete sie, wie ich aus den Augenwinkeln sehen konnte, die ganze Zeit über. Ich stieg aus, blickte der Straßenbahn hinterher und fragte mich, warum sie wohl so traurig war. Später fragte ich mich, wohin der ältere Herr wohl gefahren sei.
Zwölf Schritte weiter und ein paar obskure Gedanken später war das Konstrukt dieser Geschichte in meinem Kopf fertig; jedoch verging fast ein halbes Jahr, bis ich beginnen sollte, diese Geschichte niederzuschreiben. Sie schien mir einfach zu lang, als dass ich sie wirklich hätte veröffentlichen können. Hätte ich sie jedoch gekürzt, so wäre sie um einen Großteil des Gefühls, das sie ausmacht, beraubt worden.

Ich schrieb diese Geschichte von 2:45 Uhr bis 3:56 Uhr und von xx:xx Uhr bis xx:xx Uhr. Später wurde sie noch einmal überarbeitet, dazwischen wurde geschlafen.

Letzte Anmerkung: Der Song "A day in the life of a tree" von den Beach Boys ist einer der lyrisch anspruchsvollsten, der sich mit dem Thema Suizid auseinandersetzt. Ich hätte viele andere Songs an seine Stelle setzen können - Songs, die ich häufiger und lieber höre - aber der Hauptakteur hätte wohl, soviel Realismus muss sein, keinen dieser Songs gekannt.

Ich hab mein Bestes gegeben.


Aktuelle Beiträge

Cerita seks dewasa Cerita...
Cerita seks dewasa Cerita Sex Tante Cerita Dewasa Pemerkosaan Cerita...
Cerita Sex Terbaru (Gast) - 9. Sep, 04:57
John
A person essentially help to make seriously posts I...
Smithd912 (Gast) - 8. Sep, 01:12
Im glad I finally signed...
I am extremely inspired along with your writing talents...
http://www.mensolution.de (Gast) - 26. Sep, 03:36
To all whom it may concern...
An alle, die es angeht und an jene, die es interessiert...
Beko - 23. Okt, 20:49
"Everything's so blurry..."
"...and everyone's so fake." (Achtung: Langer Beitrag!) Es...
Beko - 21. Okt, 23:19

Bücherregal.



Stephen King
Es

Suche

 

Big Brother

Status

Online seit 6796 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 30. Mai, 21:16

Abgeschnackt.

Gefällt mir.
Gefällt mir.
Lone - 27. Mär, 23:56
Mein Freund, das Wrack.
Ein Songtext, der mich in vollster Konsequenz immer...
Lone - 22. Jul, 18:34
Inwiefern anders?
Gott, ich muss endlich mal nach Wien. Habe 'ner Freundin...
seaandsun - 2. Jun, 07:04
Ich kann mir nicht helfen,...
...irgendwie fühle ich mich an Pearl Jam erinnert...
pollon - 8. Apr, 04:28
In der Tat: Ohne Worte.
"Ich glaube an den friedlichen Protest und keine Tiere...
Lone - 24. Feb, 19:11
God damn it.
Der Kerl heißt ja "McClane" und nicht "McLane". :(
Lone - 21. Feb, 17:45
Heiliger Shice!
Lone - 21. Feb, 15:13
öööööhm?
Wie war das gedacht mit einem Beitrag wöchentlich?...
Lone - 25. Dez, 15:58


2 Geschichten
Abgebloggt!
Asphaltversager
Beko liest
Bücherregal.
Club Bizarre
Die Welt in Bildern
Fuel the hate
Gedankengebäude.
Gedankensudelei
Gesellschaftszimmer.
Heimat!
Homepage
Life in general
Lyrics
Musik
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren