Samstag, 14. April 2007

Wo die wilden Maden graben.

»Du gehörst hier nicht hin, in diese Welt. Du bist nicht bereit dafür. Nicht bereit für die Geburtstagsfeierunterhaltungen. Nicht bereit für den Overload an Verwandschaft. In Dir verkrampft sich alles. Es ist beklemmend. wie ersticken. Du hast Dich immer wie stranguliert gefühlt, an diesen langen grauen öden Samstagnachmittagen als Kind, wo zwischen Kaffee und Kuchen und endlich, endlich Heimfahrt die Pflicht bestand, dir unangenehme Fragen von Onkels und Tanten und langeweilige Spiele mit den doofen Cousinen gefallen zu lassen.
Jetzt sitzen sie da, nicht alle, nur ein paar, aber das reicht. Sie lassen sich nichts anmerken, verhalten sich, als sei es ganz normal, dass du plötzlich neben ihnen sitzt. Dennoch fühlst du dich beobachtet. Du kennst sie noch, hast sie aber Jahre nicht gesehen. Du willst sie auch nicht sehen. Als du fünfzehn warst, hast du dir gedacht, dass jeder von denen nach starker Hand und Arbeitslager schreit, wenn er euch Punks in der Stadt rumhängen sieht. Die wollten euch doch am liebsten alle vergasen. Diese Erkenntnis war für dich ein spitze Vorwand, endlich mit gutem Gewissen alles abzubrechen. Und jetzt sitzt ihr hier zusammen und sie geben sich Mühe, nett zu sein.
Und nichts ist mehr schwarzweiß.
(...)
Alkohol ist der Stoff, der hier alles zusammenhält. Wie überall anders auch.
Du führst dein Glas schon mechanisch an den Mund. Kostest jeden Schluck voll aus. Du willst so wenig sprechen wie irgend möglich.
Und wie oft Du heute schon aufs Klo gerannt bist! Sitzt einfach da auf der Klobrille und starrst die Regale an. Du hast hier mal gewohnt. Es sieht hier immer noch so aus, wie vor fünfzehn Jahren. Glaubst Du jedenfalls. Da draußen hinterm Haus hast du deine Kindheit verbracht. Zu der Zeit standen dort noch keine Häuser. Nur Wiesen, Felder, ein paar Pferde. Der Wald, in dem ihr Hütten gebaut habt. Die Maisfelder, in denen du zum ersten Mal geraucht hast. Seltsam, du kannst dich kaum dran erinnern. Du denkst an Fotoalben, und einiges fällt dir wieder ein. Aber das meiste ist weg, unwiederruflich gelöscht.
(...)
Shiny Happy People. Kreidefresser. Seifenblasentrinker. John Lennons warme Waffe: Lächeln lächeln lächeln.
Es ist völlig surreal, dass du hier mal gelebt haben sollst. Wie ein Film, den du einst im Kino gesehen und längst vergessen hast. Du fühlst dich wie ein Eindringling. Wie ein Alien von einem anderen Stern. Du hast Tränen in den Augen. Wenn du nicht wüsstest, dass ihr heute Abend noch probt, würde dir auf der Stelle der Kopf platzen. Du willst zu deinen Jungs in den Proberaum und Krach machen. Oder auf Tour fahren. Einfach in Bewegung sein. Keine Wurzeln haben.
Und du willst nicht mal die Ruhe stören. Du willst nur einfach nicht dazugehören.«


Nagel, "Wo die wilden Maden graben"
Ventil Verlag 2oo7.


Beko:
Das ich viel lese, ist bekannt. Aber selten hat mich ein Buch derart begeistert, wie "Wo die wilden Maden graben" vom Muff Potter-Gitarristen und -sänger Nagel. Schon lange her, dass ich ein Buch innerhalb eines Tages durchlas.
Muff Potter haben sich vielleicht zur wichtigsten Band meines Lebens avanciert, auf jeden Fall schallten in den letzten vier Jahren vergleichsweise wohl kaum so viele Lieder einer anderen Band durch die Boxen meiner Anlage, durch die Kopfhörer meines Walkman oder MP3-Players.
Ich kenne sie seit den späten 90ern und habe mich - ich erinnere an die Dorfhölle, aus der ich stamme; ich berichtete mehrmals an anderer Stelle in diesem Blog - immer mehr in ihren Songs wiedergefunden: I ♥ Fahrtwind, Vom Streichholz und den Motten, Auf der Bordsteinkante nachts um halb eins, Antifamilia,... - alles sprach dieselbe Sprache, jene meines Geistes und Gefühls: Irgendwie nur raus. Weg von dem.

Ein fantastisches Buch. Würde man soweit gehen, es als Tourtagebuch zu bezeichnen (was es nicht ist ... es ist und bleibt ein Roman, wenngleich wohl sehr authentisch), so würde ich es als bestes Tourtagebuch nach "Get in the van: On the road with Black Flag" bezeichnen, knapp vor "Wir könnten gute Freunde werden - Die Tocotronic Tourtagebücher" von Thees Uhlmann.
Kaufen, lesen, mögen, wieder lesen, lieben.


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