Dienstag, 17. April 2007

If I could freeze our small amount of time together...

Du rennst die Treppen runter. Während des Laufens versuchst Du, Dir eine Zigarette anzuzünden. Fünf Züge sollten eigentlich trotz Zeitmangels noch drin sein. Wieder einmal bist Du spät dran, ein Dauerzustand, der sich wie ein roter Faden durch die letzten zehn Jahre Deines Lebens zieht.

Um 05:16 Uhr im Bett hochgeschreckt - scheiße! -, der Wecker klingelte bereits vor elf Minuten. Elf kostbare Minuten. Ins Badezimmer gesprintet, Gesicht gewaschen und Zähne geputzt. Duschen kannst Du heute Abend nach der Fahrstunde, da hast Du es ohnehin nötiger. In die Klamotten gesprungen, Schuhe an und die Schnürsenkel in die Schuhe gestoft. Zubinden kannst Du sie auch noch in der Straßenbahn. Noch einmal ins Schlafzimmer, dem Mädchen, neben dem Du - mal wieder zu spät - aufgewacht bist noch schnell einen Kuss geben (die Glückliche muss erst in drei Stunden aufstehen...), einen Hieb aus dem Tetrapak Orangensaft genommen, den Schlüssel umgedreht und raus.

Jetzt stehst Du hier im Treppenhaus, entzündest die Zigarette und rennst weiter. Du nimmst drei Stufen auf einmal und spurtest aus dem Haus. In zwei Minuten kommt die Straßenbahn und die ist - nun zu Deinem Leidwesen - pünktlicher als die Deutsche Bahn.
Noch drei Züge und Du schmeißt die Kippe in die Ecke, eine Kurve noch und Du bist da. Schwer atmend stehst Du an der Haltestelle und siehst auch schon die Bahn ankommen. Du stehst mal wieder zu weit hinten, vor Deiner Nase steht der hintere Wagen. Eigentlich steigst Du lieber vorne ein (dann sparst Du beim Umsteigen Zeit und Weg), aber neben Dir steht eine Polizistin, die ebenfalls einsteigen will, und Du magst nicht an ihr vorbeilaufen. Paranoia und Zeitmangel waren noch nie beste Freunde.

In der Straßenbahn ist der einzige leere Platz genau gegenüber der Polizistin. Dann doch lieber stehen. Endlich Zeit zum Gähnen. Du fragst Dich, wie lange Du wohl geschlafen hast? Gestern Spätschicht, danach Kino (Spätvorstellung), um Viertel vor zwei im Bett gewesen. Das letzte Mal bewusst auf die Uhr geschaut: 2:15 Uhr, danach noch etwas wach gelegen (die verdammten HipHopper von gegenüber - um diese Uhrzeit ihr gottverdammte Mucke so laut aufzudrehen). Effektive Schlafenszeit: Circa 2,5 Stunden. Aber hey, immerhin war der Film gut. Du musst lächeln. Überhaupt hast Du in letzter Zeit echt Glück gehabt, seit längerer Zeit keine schlechten Filme gesehen.
Du denkst an das, was noch ansteht, blickst mit müden Augen durch die Gegend, und der erste klare Gedanke, den Du an diesem Montagmorgen fassen kannst ist: Ohne gute Musik überstehe ich den Tag nicht. Orientierungslos kramst Du in Deiner Tasche nach dem MP3-Player und versuchst Deine Gedanken zu ordnen: Was ruhiges, um den Tag langsam angehen zu lassen oder was schnelles, hartes um wach zu werden? Du entscheidest Dich für letzteres.
Deine Blicke wandern, mit dem Kopf zum Takt der Musik wackelnd, durch die Bahn. Unruhe macht sich im Abteil breit, Du befürchtest schlimmes, schaust Dich um und erblickst sie: Kontrolleure. Na vielen Dank. Noch zwei Stationen zu fahren, zehn Meter vor Dir die Kontrolleure, einen Meter hinter Dir die Polizistin Mitte 20. Aber Menschen wie Du haben wohl immer eine ordentliche Portion Glück in der Gesäßtasche gebunkert, für schlechte Zeiten. Sie haben einen Schwarzfahrer erwischt, sind mit ebendiesem beschäftigt und die Straßenbahn rollt in die Luft zum Atmen versprechende Zielstation ein. Armer Sünder. Du drückst ihm die Daumen und wünschst ihm eine gute Ausrede, während Du die Bahn verlässt. Müden Schrittes blickst Du Dich um, um zu schauen, ob die Polizistin mit Dir zusammen das Abteil verließ. Verdammte Paranoia. Aber nein, Glück gehabt, sie fährt noch weiter. Du siehst sie in der Bahn sitzen, und als Du realisierst, dass Du sie los bist, musst Du lächeln. Sie denkt, dass Dein Lächeln ihr gilt und nicht dem Umstand, dass sie weiterfährt, und lächelt brav zurück.

Von einer Straßenbahn in die nächste, nur für drei Stationen (oder doch vier? Du hast sie nie gezählt). Du wechselst den Bahnsteig, kommst an und die Straßenbahn fährt ein. Gutes Timing, Junge. Wäre es nicht zuviel Bewegung, würdest Du Dir selbst auf die Schulter klopfen.
Du entdeckst einen leeren Platz und entscheidest, dass Du die paar Stationen ruhig sitzen kannst. Dir gegenüber sitzt das Leiden Christi: Aufgedunsenes Gesicht, eine Nase wie eine Knolle, tiefliegende Augen mit dunklen Ränden, gut beleibt, Mundwinkel bis zu den Kniekehlen, vertieft in Deutschlands Seifenwasserblatt Nr. 1; Geschlecht: Dem Anschein zufolge weiblich.
Du kennst Deinen Körper und Du kennst Deine Schwächen - und vor allem weißt Du: Dein Gehör arbeitet frühmorgens auf Sparflamme. Der Song, der durch die Kopfhörer des MP3-Players in Deine Ohren geht, ist zu gut, als dass Du ihn nur in einem Bruchteil der Lautstärke, die er eigentlich verdient, hören kannst. Während Du langsam aber stetig die Lautstärke erhöhst, blickt Dein Dein Gegenüber, Frau Rübezahl, missmutig über den Rand ihrer Zeitung (Nein! Natürlich, sie liest doch nur das Horoskop. Selbstverständlich), genau in Dein Gesicht. Du zückst als Rüstzeug die Waffe der Althippies: Das Lächeln. Manchmal ist nichts entwaffnender. Lächeln nennst Du das? Mühevoll ziehst Du einen Mundwinkel nach dem anderen Richtung Ohren, erst den rechten, dann den linken. Durch Deine zugekniffenen Augen, gerötet und mit tiefen, dunklen Rändern (welch schöner Kontrast) muss das ganze ziemlich hämisch aussehen. Aber wie dem auch sei, sie murmelt etwas in ihren (durchaus vorhandenen) Bart und senkt den Blick wieder Richtung Brausepulverblatt.

Die drei (oder sind es vier?) Stationen sind geschafft, Du steigst aus, jetzt geht es in den Bus. Sechs Minuten Wartezeit, reicht für 'ne Fluppe. Du entzündest sie, ziehst dran und wippst mit dem Fuß. Gott, wie Du diesen Song liebst. Es ist 05:42 Uhr in der Innenstadt, die Schwesternschülerinnen des nahegelegenen Kinderkrankenhauses gehen an Dir vorbei und Du fängst an zu tanzen. Look at me, I'm standing right here ... and I'm dancing with Samiam on my mind.
Der Bus fährt vor, Du holst Dein Portemonaie heraus, schnippst die Zigarette unter den Bus und fragst Dich zeitgleich, ob er wohl dadurch explodieren wird, wie bei Alarm Für Cobra11 und Konsorten.
Du zückst Deine Fahrkarte, gehst am Fahrer vorbei und hoffst, dass er ebenso müde ist wie Du und ihm nicht in den Sinn kommt, dass wir gar nicht Dezember 2006 haben. Ja, er ist müde. Glück gehabt. Du setzt Dich ganz vorne hin, obwohl hinten noch alles frei ist. Früher waren das in Deinen Augen die Spießer- oder Streberplätze, doch seitdem Du (mehr oder weniger) regelmäßig die Fahrschule besuchst, hast du verstärktes Interesse, anderen beim Fahren zuzuschauen, um zu sehen, wie sie die Situationen meistern, in denen du hinterm Steuer schwitzend versagst. Du hast nicht viel Erfolg, auf den Straßen ist nichts los um diese Uhrzeit - und die Sau blinkt nicht beim Spurwechsel. Du fragst dich, ob Du Deinen Fahrlehrer nicht mal darauf ansprechen solltest, die Fahrstunden vielleicht auf 05:00 morgens zu verlegen. Lächelnd verwirfst Du die Idee, Dein Fahrlehrer ist offensichtlich ein noch größerer Morgenmuffel als Du.
No Use For A Name dröhnt durch die Ohren und Du versuchst, gedanklich den Tag ein wenig zu strukturieren. Gleich Arbeit, um 14:00 Uhr Feierabend, um 15:10 Uhr zuhause (Verdammt! Du brauchst den Lappen!), Katzen streicheln, ins Bett legen, schlafen. Du hast gemerkt, dass Du ziemlich scheiße fährst, wenn Du so müde bist, und dafür ist Dir Dein Geld zu schade. Um sieben vom Mitbewohner wecken lassen (Memo an Dich: Ihm unbedingt einen Zettel hinlegen), den Flurschuhschrank kaufen, den Du gesehen hast (langsam entwickelst Du echt einen Schuhtick) und in Den Flur stellen. Soll heißen: Die Kartons in den Flur stellen, denn dort stehen sie sicherlich zwei, drei Wochen, bis Ihr in aufbaut. Was für 'ne Männer-Wg: Zwei Kerle mit linken Händen, die größtes Vergnügen dabei entwickeln, sich abends zusammen vor den Fernseher zu setzen und die Charmed-Staffeln zu schauen (gerade: Dritte Staffel, in vier Folgen stirbt Prue).
Danach, um 21:00 Uhr Fahrstunde. Es wird schon dunkel sein, Du bist noch nie im Dunkeln gefahren. Aber muss ja. Du schluckst.

Du musst seufzen, wenn Du an die Arbeit denkst, denn Du weißt, dass Du heute vormittag wieder alleine auf Station bist. Derjenige, der für den Personalmangel im Pflegebereich verantwortlich ist, gehört an den Pranger gestellt und öffentlich ausgepeitscht. Du denkst an Psychopharmaka im Allgemeinen, an Neuroleptika und Antidepressiva, an Anxiolytika und Stimmungsstabilisierer und an den schmalen Grat beim hantieren mit ebendiesen Mitteln. Wach sein heißt es, Fehler können tödlich enden. Und wieder ein Seufzen. Verdammter Personalmangel.
Aus den Kopfhörern dröhnt "For Fiona". Gott, wie sehr Du diesen Song doch liebst. "If I could freeze our small amount of time together..." Wieder ein Seufzen. Du denkst daran, dass Dir leider Gottes immer wieder die Zeit fehlt, um sie mit all den schönen und wunderbaren Menschen zu teilen, die Du kennst und die Deine Gegenwart verdienen, so wie Du auch die ihre verdienst. Du denkst an Sarah. Sie zog vor drei Jahren nach Wien und ihr seht Euch leider viel zu selten. Dennoch siehst Du in ihr immer noch die beste Freundin, die Du je hattest. "I owe you eternally." Oh Gott, wie sie Dir fehlt. Dir kommt der Gedanke, dass Du Deine Tochter nach ihr benennen solltest. Nach ihrem zweiten Namen, so als kleiner Tribut daran, was sie doch für ein wichtiger, wundervoller Mensch ist. Ihr zweiter Name, den nicht jede Sau kennt, ein stillschweigender und nicht plakativer Tribut. J., was für ein schöner Name. Du fragst Dich, warum die most beautiful minds auf dieser Welt die schönsten Namen tragen; es scheint fast, als wollten die Namen die Schönheit ihrer Seele untermauern und bestätigen. Ein schöner Gedanke.

Viele schöne Gedanken. Viele Gedanken auf einer langen Fahrt. Da vorne geht die Sonne auf, von rot und gold geblendet musst Du blinzeln. Gleich wirst Du aussteigen. Und es wird sicher - trotz allem! - ein guter Tag. Ein schöner Tag. So schön wie die Seelen und Namen der wundervollsten Menschen, die Du kennst. Die wundervollsten Menschen dieser Erde.


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Lone - 24. Feb, 19:11
God damn it.
Der Kerl heißt ja "McClane" und nicht "McLane". :(
Lone - 21. Feb, 17:45
Heiliger Shice!
Lone - 21. Feb, 15:13
öööööhm?
Wie war das gedacht mit einem Beitrag wöchentlich?...
Lone - 25. Dez, 15:58


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